Bob Dylans Songs ähneln Cy Twombly’s Bildern. Scharfe Beobachtungen, vage Andeutungen, Zitate aus der Literatur, der Mythologie und immer auf dem Weg zu einem unfassbaren Ganzen. Sinnbildungen stellen sich zwischen den Zeilen her und sind nie ganz abgeschlossen. So wie Dylan die Wirklichkeit in seinen Songs beschreibt, so sucht auch unsere Zeit sie in immer anderen Entwürfen zu fassen. Und wie das Werk ist auch der Mann. Die unruhigen Metamorphosen seines Lebens sind kaum zu überblicken: Idol der Jugend, Star des gekonnten Auftritts, Gestrandeter, Outcast, Wiedergeborener, emphatischer Christ, poetischer Chronist seiner Zeit und Anwärter auf den Literaturnobelpreis. Immer in Metamorphose. Gelebte Morphologie?

Nun ist Bob Dylan siebzig Jahre alt und tourt mit Mark Knopfler im Herbst 2011 durch Deutschland. Letzterer ein Vollblutmusiker, der erstgenannte ein lebendes Gesamtkunstwerk. Erste Station in Deutschland: Die König-Pilsener-Arena in Oberhausen. Achtzig Prozent der Besucher sind Rentner und Pensionäre. Die meisten kommen wohl, um vergangene Zeiten wieder auferstehen zu lassen. Ihre Erwartungen werden – zumindest von Bob Dylan – kräftig enttäuscht. Denn dieser Mann stellt sich quer, wenn die Menschen ihn dazu benutzen wollen, der kulturellen, der gelebten Gegenwart zu entfliehen. „It Ain’t Me, Babe!“, raunzt es ihnen mit dunkler, gewehrsalvenartiger Stimme entgegen. Ich bin nicht der Mann eurer Tagträume, ich bin nicht gekommen, euch ein paar gemütliche Stunden zu machen!

Bob Dylan

Der Rundfunk berichtet. Quelle: wdr.de

Dylans Verszeilen klingen an diesem Abend wie Mörsergranaten. Die vierzehn Songs sind mit einem Sound armiert, in dem man sie noch nie gehört hat. Und wahrscheinlich wird man sie auch nie wieder so hören. Die hart arbeitende Band formt einen konzentrierten, sich in engen Wendungen vorwärts treibenden Rhythmus aus. Jedem Ausbrechen aus diesem Muster, jedem Aufkommen von Sentimentalität wird vorgebeugt. Ein durchwegs mitreißender, aber auch beunruhigender Drive. Dem Zerfließen des Alltags stellt der Künstler entschiedene, sich ihren Weg bahnende Klangwerke entgegen. Full Metal Jackett! Keines der alten Lieder ist auf diese Weise auf Anhieb wieder zu erkennen. Und schon erheben sich die ersten enttäuschten Besucher und machen sich grummelnd auf den Heimweg. „Things Have Changed!“ ruft es ihnen von der Bühne hinterher.

Dylans Auftritt ist keine Verachtung des Publikums. Es ist der Auftritt eines Künstlers, der verstanden hat, dass man sich nicht gegen die Metamorphosen der Wirklichkeit stellen kann. Und wenn man es dennoch versucht, macht man sich allzu schnell lächerlich. Wie jene alternden Popstars, die sich und den Menschen auf ihren Revival-Touren vormachen, dass man die alten Zeiten als Konserve der Rührung auch weiterhin genießen kann. Dylan, dagegen, blickt mit scharfem Blick in die Gegenwart und manchmal auch in die Zukunft. Etwa wenn er mit seiner Mörserstimme warnt, es werde ein schwerer Regen auf uns niedergehen („A Hard Rain’s A-Gonna Fall“) Ahnen wir das nicht auch? Oder wenn er seinem Publikum abverlangt: Gebt es ruhig zu, ihr habt keine Ahnung, was da draußen in der Welt passiert („Ballad Of A Thin Man“). Mit seinem einzigartigen Auftritt schafft es Dylan, dass seine alten Texte vom aktuellen Kontext eine scharfe Auslegung erfahren.

Ganz zum Schluss kommt dann doch noch Hoffnung auf, die Ikone würde an unsere Jugendseite rühren („Like A Rolling Stone“). Drei, vier Zuschauer springen auf und schwingen ihre grauen Locken, aber der Mann auf der Bühne fordert sie dazu auf genau hinzuhören. Er singt die Hymne der jugendlichen Ungebundenheit nicht in einer Weise, dass man dazu tanzen kann. Er macht spürbar, dass sich das Wort „Freiheit“ heute nicht mehr so anhört, wie in den sechziger Jahren. Sie ist anders geworden, diese Freiheit, kaum noch zu erkennen. Und tatsächlich setzen sich die Tanzenden wieder auf ihre Stühle.

Bob Dylan zeigt mit seinem Altersauftritt, dass ein Mann nicht zweimal in den Fluss der Zeit steigen kann, ohne als ein anderer herauszukommen. Er ist nun siebzig Jahre alt. Also erzählt er seinen Zuhörern in der Stimme des grantigen Alten, was er sieht und was er erfährt. Er führt sie nicht zurück in eine Vergangenheit, die es nicht mehr gibt. Mit seinen durchdringenden, vorwärts treibenden Klangmustern leitet er sie durch das Chaos der Gegenwart. Er ist noch immer der Künstler, der die Welt durch seine Erfahrung strömen lässt und sie dann anhält, um ihr in einem Song eine Gestalt zu geben. Das machte er in den sechziger Jahren so und das hat sich bis heute nicht geändert. Bob Dylan lebt seine Metamorphose. Und das mit Standfestigkeit!

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