Der Film »25 Stunden« von Spike Lee
Manche zeitgenössischen Filme gestalten Wirkungseinheiten, in denen eine fiktive Story, geschichtliche Ereignisse und aktuelle Hoffnungen und Befürchtungen zu einem bewegenden Kinoerlebnis zusammenlaufen. Solch ein Film ist 25 Stunden (USA 2002), den der amerikanische Regisseur Spike Lee nach einem Drehbuch von David Benioff gedreht hat. Der Film spielt circa ein Jahr nach den Anschlägen des 11. September in New York und erzählt von dem zu einer langen Zuchthausstrafe verurteilten Drogenhändler Monty (Edward Norton), der die letzten fünfundzwanzig Stunden in Freiheit dazu nutzt, sein verirrtes Leben zu ordnen.
Am Beispiel dieses Films soll untersucht werden, wie eine Film-Wirkungseinheit zum Ausdruck eines Kulturproblems werden kann. Nach Salber (1993, S. 184) sind die westlichen Gesellschaften durch ein kollektives Auskuppeln aus vereinheitlichenden Lebensbildern gekennzeichnet. Diese „Auskuppelkultur“ setzt auf eine Vielfalt von Verwandlungsversprechen, ohne dabei eine Richtung konsequent zu verfolgen. So gibt es im Alltag zwar ein breites Spektrum an Auftritten und Entwürfen, aber trotzdem tritt das Leben im Ganzen auf der Stelle. In gewisser Weise sind in der Auskuppelkultur entschiedene Lebensformen und Konsequenz überhaupt für die Menschen unfassbar geworden. Unter diesen Bedingungen werden Filme anziehend, die den flimmernden Alltag zumindest für zwei Stunden auf eine Erfahrung mit Konsequenz auszurichten verstehen. Wenn die Zeitgenossen in ihrem Alltag es vorziehen, von einem Auftritt zum nächsten zu gleiten, so können sie im Kino erfahren, was es heißt, mit Entschiedenheit ein Ziel zu verfolgen und dafür Opfer zu bringen. Der Film 25 Stunden bietet solch ein Erlebnis an. In einem Gruppeninterview mit 14 Personen, die den Film vorher gesehen haben, wurden dessen Wirkungsprozesse im psychologisch-methodischen Rahmen von Wirkungseinheiten rekonstruiert.
In seinem Vorspann bringt der Film zunächst das Unfassbare des 11. September ins Spiel: Über der nächtlichen Skyline von Manhattan, genau an der Stelle, wo einst die beiden Türme des World Trade Centers standen, kreisen mächtige Scheinwerferkegel. Es ist nicht auszumachen, ob sie von der Erde in die Wolken strahlen oder gewissermaßen „vom Himmel herab kommen“. Monty hat drei Freunde. Der eine ist der riesige Ukrainer Kostya (Tony Siragusa), mit dem er im Drogenhandel zusammenarbeitete und sich einen beachtlichen Wohlstand aneignete. Monty leidet unter Kostyas wiederholter Behauptung, dass ihn seine geliebte Frau Naturelle (Rosario Dawson) an die Drogenfahndung verraten haben soll. Der zweite Freund ist Jakob (Philip Seymour Hoffman), Englischlehrer an der traditionellen Schule, auf die auch Monty ging. Jakob fühlt sich von seiner Schülerin Mary (Anna Paquin) angezogen und ringt damit, den Verführungsversuchen des Mädchens zu widerstehen. Der dritte Freund ist Francis (Barry Pepper), der als Broker in der Wall Street arbeitet und mit riskanten Börsengeschäften in wenigen Minuten Millionengewinne einfährt. Mit diesen Figuren spitzt der Film einen Lebenszusammenhang zu, in dem das Verfließen in direkten Verheißungen auf schnelles Glück, auf Weiterkommen und hohen Gewinn den Alltag der Menschen bestimmt.
Durch die Suchbewegungen der Figuren hindurch, formiert sich eine Parteinahme für den Protagonisten Monty. Die Leidenschaften und Geschäfte seiner Freunde wirken eigentümlich getrieben und riskant. Kostya ist nach wie vor im Drogengeschäft tätig. Er arbeitet für Nikolai (Levani Outchaneichvili), der Monty in seinen Club eingeladen hat, um sich von ihm zu verabschieden. Jakob wirkt schwach und ziellos und es ist abzusehen, dass er Marys Reizen schließlich erliegen wird. Francis hält anderen Moralpredigten und gibt sich überkorrekt, tatsächlich aber hintergeht er seinen Chef und fällt Monty mehrmals in den Rücken. Es ist auch nicht zu übersehen, dass er auf Naturelle ein Auge geworfen hat. Inmitten dieser Gruppe der durch das Leben Gleitenden wirkt der Verurteilte ungewöhnlich geradlinig und anständig. Er sorgt sich um seinen Hund, leidet aufrichtig unter dem Verdacht, seine eigene Frau könnte ihn verraten haben und sucht die Sorgen seines alkoholkranken Vaters James (Brian Cox) zu vertreiben. Die vor dem Gesetz Unbescholtenen lassen sich durch den Dschungel der großen Stadt treiben, aber der „Verbrecher“ zeigt eine ungewöhnliche Geradlinigkeit. Das ist eine interessante Umkehrung gewohnter Wertungen, die der Filmwirkungseinheit einen stabilen Anhalt gibt.
25 Stunden versetzt das Filmerleben in eine Dynamik zwischen Verfließen und Konsequenz. Die Tendenz zum Verfließen wird spürbar in Jakobs Not, an seiner Lehrerrolle festzuhalten, aber auch an Francis Bereitschaft, sich über Regeln hinwegzusetzen und seinem Freund Monty in den Rücken zu fallen. Auch Montys Lebensbilanz macht deutlich, wie unüberlegt man sich von momentanen Verheißungen mitreißen lässt. Unverrückbare Konsequenzen deuten zum einen die Spuren des verheerenden Terroranschlages am „Ground Zero“ an. Francis bewohnt eine Wohnung, von deren Fenster aus man die Aufräumungsarbeiten beobachten kann. Vor dieser Kulisse versucht er Jakob dazu zu bewegen, den gemeinsamen Freund Monty wegen seiner kriminellen Vergehen aufzugeben. Zum anderen wird in der Ankündigung von Montys immer näher rückendem Haftantritt eine unausweichliche Konsequenz spürbar, auf die die Geschichte stetig zuläuft.
Im mittleren Teil, den der Film weitgehend auf einen Schauplatz, nämlich den Nachtclub des Drogenbosses Nikolai, konzentriert, wird dieses Spannungsverhältnis in explosiven Konstellationen zugespitzt. Die Ansätze zu Verführung, Verrat und Unausweichlichkeit wachsen zu Wendungen mit Folgen aus. Jakob trifft in dem Lokal auf Mary, seine Schülerin, versucht seine Erregung zunächst zu beherrschen, fällt ihr aber schließlich anheim. Er folgt dem Mädchen auf die Toilette, küsst sie und stellt erst jetzt fest, dass sie sich in einem Drogenrausch befindet und dieser von ihm lang ersehnte Moment für sie gar keine Bedeutung hat. Die Zuschauer wissen, dass er mit dieser Schwäche seine Laufbahn als Lehrer aufs Spiel setzt. Francis setzt sein falsches Spiel fort, hintergeht seinen Freund Monty und spielt sich gegenüber der schönen Naturelle als Moralapostel auf. Er wirft ihr vor, Monty aus Geldgier zu den Drogengeschäften angespornt zu haben. Damit wird ihre Freundschaft unumkehrbar zerstört. Und als Monty schließlich zu Nikolai, dem mächtigen Boss, gerufen wird, erfährt er, dass es sein Kollege Kostya war, der ihn an die Dogenpolizei verraten hat. Nikolai drückt ihm eine Pistole in die Hand, um den Verräter zu richten, aber Monty kann nicht abdrücken. In diesen Zuspitzungen verstärkt sich die Sympathie für den ehemaligen Drogendealer, der beharrlich daran arbeitet, seine Verhältnisse zu ordnen und sich dem Unausweichlichen zu stellen. Es wird deutlich, welch eine heillose Anarchie der Wünsche das Leben bestimmt und wie ziellos die Menschen darin erscheinen. Es wird spürbar, dass demgegenüber das Festhalten einer Richtung den Alltag zu vertiefen und wesentliche Wertungen des Lebens herauszurücken vermag. Monty, der verurteilte Verbrecher, der sich auf die Sühne seiner Taten mit Anstand vorbereitet, ist zum orientierenden Anhalt im ziellosen Verfließen geworden. Dieser Eindruck wird noch einmal verstärkt, wenn es nun sicher erscheint, dass Naturelle, die er als Schulmädchen einst auf einem Spielplatz kennen lernte, nicht die Verräterin ist. Monty hat sich in seiner schönen Frau nicht getäuscht.
Monty ist nicht nur ein verlässlicher, sondern auch ein kluger Mann. Er ist bereit, seine Strafe abzusitzen, aber er weiß auch, dass im Zuchthaus Gefahren auf ihn warten. Sein Bemühen, sein Leben in Ordnung zu bringen, ist durch eine große Unwägbarkeit gefährdet. Junge, smarte Männer wie er werden von den brutalen Mithäftlingen nicht selten vergewaltigt und als „Sexsklaven“ gehalten. Die Zuschauer sehen diese Gefahr und hoffen, dass ihr „Held“ ihr entgehen wird. Wenn hier und dort die Möglichkeit aufblitzt, Monty könnte sich durch Flucht in einen anderen Bundesstaat dem Strafantritt entziehen, greifen sie diese Perspektive gerne auf, obwohl sie auch verspüren, dass damit die vom Film in Gang gebrachten Entwicklungen keine zufrieden stellende Schließung erführen. Sie setzen darauf, dass Monty eine Lösung finden wird, die seiner Geradlinigkeit entspricht.
Im Morgengrauen trifft sich Monty ein letztes Mal mit Jakob und Francis im Park. Seinen Hund übergibt er dem treuen Jakob. Er wird sich um ihn kümmern. Francis jedoch soll Monty einen sehr viel schwierigeren Gefallen erfüllen. Er soll ihm mit voller Kraft mehrmals ins Gesicht schlagen, damit sich die Häftlinge im Zuchthaus vor ihm ekeln werden und dann vielleicht auf Dauer in Frieden lassen. Er sieht in dieser entstellenden Tortur die einzige Chance, das Absitzen seiner Strafe psychisch zu überleben. Diese Szene wirkt ungewöhnlich eindringlich, weil Francis heimliches Ressentiment gegen seinen Freund in den immer heftiger ausfallenden Schlägen einen sichtbaren Ausdruck findet.
Damit ist Monty bis zur Unkenntlichkeit entstellt, aber er ist „gefasst“ und auf das Gefängnis vorbereitet. Er verabschiedet sich von seiner Frau und rät ihr, ihn nicht zu besuchen und auch nicht auf ihn zu warten. Sein Vater James kommt und gemeinsam machen sie sich in dessen Wagen auf den Weg. James schlägt vor, nach Westen zu fahren und irgendwo in der Weite des Landes ein neues Leben zu beginnen. Monty antwortet nicht und der Film führt diesen Gedanken in Bildern aus. Mitentscheidend für die Auslegung dieser Sequenz durch die Zuschauer ist, dass sie einen leicht ironischen und surrealen Unterton aufweist: Vater und Sohn fahren durch die Ebenen des Mittleren Westens. Die im Fahrtwind flatternde amerikanische Flagge begleitet sei. Es kommt Hoffnung auf, dass Monty es schaffen wird, sich der staatlichen Macht zu entziehen. Zugleich aber regen sich auch Bedenken gegen eine solch „leichte Lösung“. Sie kann die in Gang gekommenen Entwicklungen nicht zufrieden stellend fassen. Schließlich kommen Vater und Sohn in einer Kleinstadt an. Sie gleicht den Orten in alten amerikanischen Westernfilmen. In einer Bar trinken sie ein letztes Glas zusammen und der Vater lässt seinen Sohn schließlich allein zurück. Der findet einen einfachen Job und arbeitet ein paar Jahre. Als er sich wieder sicher fühlt, meldet er sich bei Naturelle und zu Sylvester stößt das wiedervereinte Paar auf sein neues Leben an. Es vergehen viele Jahre. Monty und Naturelle ziehen ihre Kinder groß. Als die Kinder erwachsen sind, ruft Monty seine Familie zusammen und erzählt ihnen die ganze Geschichte. Das Leben, das er führt, und damit auch seine Kinder, habe es um ein Haar nicht gegeben… In diesem Augenblick kehrt der Film zurück zu Vater und Sohn im Auto auf dem Weg ins Gefängnis. Mit blutigem und entstelltem Gesicht schaut Monty aus dem Fenster. Er ist ruhig und gefasst und wird seine Strafe antreten. Den „amerikanischen Traum“ vom Neuanfang in den Weiten des Westens wird er sich nicht erfüllen. Und diese Lösung – das ist das erstaunliche Ergebnis des Wirkungsprozesses – wird von den meisten Zuschauern als die einzig richtige empfunden. Sie verzichten auf den Neuanfang und setzen auf die Neuordnung der Verhältnisse.
An der Jahrtausendwende hat die Alltagskultur neue Suchbewegungen hervorgebracht, die über den Film 25 Stunden eine bewegende Vermittlung erfahren. Auch unter dem Eindruck der Anschläge in New York am 11. September 2001 hat das Auskuppeln aus zusammenhängenden Wirkungsfolgen seinen Reiz nicht verloren. Und doch regen sich darüber hinaus neue und dem Zeitgeist nur scheinbar widersprechende Entwicklungsrichtungen, z.B. eine besonders bei jungen Menschen zu beobachtende Sehnsucht nach Lebensformen mit einfacher und konsequenter Ausrichtung. Indem der Film 25 Stunden das unfassbare, historische Ereignis aufgreift und eine Wirkungseinheit ausgestaltet, in der sich das Verfließen als ein Zusammenhang erweist, der auf ewiges Kreisen in kurzweiligen Erregungen hinausläuft, wirkt schließlich Montys Hinnehmen einer harten Strafe als Versprechen, das weiterführen kann. Die Erlebensentwicklung des Films entlarvt die Hoffnung auf ewigen Neuanfang als Ideologie einer Kultur, die sich im ziellosen Auskuppeln zu erschöpfen droht. „Wirkungseinheiten“ sind ein psychologisch-methodisches Konzept, mit dem solche kaum bemerkten Entwicklungen aufgespürt und gefasst werden können.
Literatur: Salber, Wilhelm (1993): Seelenrevolution. Bonn.