Million Dollar Baby (USA 2004)
Regie: Clint Eastwood
Buch: Paul Haggis
Wie kein anderes Medium lässt das Kino an Gestaltungsprozessen der Wirklichkeit teilhaben. Die Zuschauer sitzen auf einem Stuhl und verfolgen eine fiktive Geschichte. Zugleich machen sie eine Erfahrung, in der Grundprobleme ihres Lebens eine verdichtete Behandlung erfahren. In Clint Eastwoods unter anderem als „bester Film“ mit dem Oscar 2005 prämiertem Million Dollar Baby geht es um das Werden und Vergehen einer Gestalt. Das klingt „banal“. Gerade deswegen gehört der Film zu dem Besten, was das Kino zu bieten hat.
Mit den Anfangsszenen gerät man in eine heruntergekommene Boxhalle. Hier haben sich junge Männer eingefunden, die davon träumen im Ring groß herauszukommen. Sie werden betreut von dem Trainer Frankie Dunn (Clint Eastwood) und dessen Angestellten Scrap (Morgan Freeman). Der Betrieb scheint schon seit langem auf der Stelle zu treten. Ein Großteil der Arbeit der beiden Männer besteht darin, den teils großmäuligen, teils verstörten Jugendlichen einen Ort bereitzustellen, an dem sie ihrer diffusen Aggressivität eine Form geben können. Und immer wenn sich ein Talent für einen Meisterschaftskampf herausschält, gibt Frankie es an einen anderen Boxmanager weiter. Schuldgefühle gegenüber Scrap, den er in seinem 109. Kampf trotz Verletzung weitermachen ließ, woraufhin er sein rechtes Auge verlor, lassen Frankie vor der Verantwortung als Meisterschaftstrainer zurückschrecken.
In diesen Kreis tritt eines Tages eine dreißigjährige, aber im ersten Eindruck mädchenhafte Frau. Maggie Fitzgerald (Hilary Swank) hat ihre übergewichtige Mutter und ihre Geschwister, die allesamt von der Sozialhilfe leben, verlassen und sich in den Kopf gesetzt, als weiblicher Boxer ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Um ihr Ziel zu erreichen, braucht sie einen Trainer. Sie glaubt, in Frankie den richtigen gefunden zu haben, denn er – so meint sie – hat einen Blick für sie. Frankie weist ihr Ansinnen entschieden zurück. Zum einen, weil er wegen der oben erwähnten Geschichte mit Scrap eine ernsthafte Verletzung der jungen Frau nicht verkraften würde. Und zum anderen, weil er sich seiner Tochter gegenüber als Versager fühlt. Seit Jahren schreibt er Briefe, deren Annahme sie verweigert. Solange er keinen Zugang zu seiner eigenen Tochter findet, will er nicht einer Fremden ein Vater sein. Aber Maggie ist außergewöhnlich hartnäckig. Sie verdient ihren Lebensunterhalt als Kellnerin und verbringt jede freie Minute an Sandsack und Boxbirne. Immer wieder strahlt sie ihren Wunschtrainer an und wartet darauf, dass er sich doch eines Tages entscheidet. Sie hat keine andere Wahl. Boxen ist nun mal ihr Talent und die einzige Chance, sich als jemand Besonderes abzuheben. Maggie ist eine einfache, aber authentische Frau. Sie bemüht weder die großen Sprüche ihrer Boxkameraden in der Halle, noch nimmt sie den verführerischen, aber auch schwächenden Support der Gesellschaft in Anspruch. Hierzu gehören Drogen, Alkohol, Fernsehen, zwanghafter Konsum, Selbst- oder Fremdtäuschung mithilfe von Ideologien und natürlich auch Sozialhilfe. Maggie verzichtet auf all diese Hilfestellungen, von denen man sich tragen und in Sicherheit wiegen lassen kann und dabei schließlich seine eigene Chance verfehlt. Sie will im Ring siegen und so die Menschen dazu bringen, ihren Namen zu rufen. Darin sieht sie ihre Chance, sich als eigene Gestalt aus dem sie umgebenden Gemenge von Leerlauf, Heuchelei und Sentimentalität herauszuheben.
Der Film erzählt seine Story in einer Zeit, in der es für junge Menschen wie nie zuvor schwierig geworden ist, eine entschiedene Richtung im Leben zu finden. Anders ausgedrückt: Eine abgehobene Gestalt zu werden. Unsere Kultur ist verliebt in den Individualismus und verlangt seinen Mitgliedern damit viel ab. Denn zugleich bietet sie ihnen ein noch nie da gewesenes Spektrum an glänzenden Schnittmustern des Lebens und Glück verheißenden Auswegen an. Es ist gar nicht so einfach „man selbst“ zu sein, wenn man tagtäglich dazu verführt wird, sich selbst fremd zu werden. In einer Szene kommt Frankie mit einem Videoband zu Maggie nach Hause. Sie hat inzwischen eine Menge Geld verdient. Aber vergeblich sucht Frankie in ihrer Wohnung nach einem Fernseher und einem Videorekorder – eine Ausstattung, die in unserer Gesellschaft zum Minimum gehört. Maggie, die einfache Frau aus den Slums, verweigert das Fernsehen. Das ist konsequent, denn sie hat das Ziel, als eine eigene Gestalt im Blick der anderen bemerkt zu werden. Der tagtägliche Anschluss an die vorgegebenen Muster der Unterhaltungsindustrie kann diesem Vorhaben tatsächlich im Wege stehen.
Million Dollar Baby macht in seinem zweiten Akt das Werden einer abgehobenen Gestalt mit einfachen und eindringlichen Bildern erfahrbar. Der Film macht darauf aufmerksam, dass wir das Korrektiv von Anderen benötigen, um das Eigene herauszubringen. Erst als Scrap damit beginnt, Maggie ein paar Hinweise zum Umgang mit dem Sandsack zu geben, kann sie sich in einer Art und Weise weiterentwickeln, dass schließlich auch Frankie ihr Talent nicht mehr zu verleugnen vermag. Er gibt seinen Widerstand auf und lässt sich auf das Wagnis ein. Geduldig, aber auch streng bringt er ihr die grundlegenden Bewegungen des Boxsports bei, formt aus ihr etwas heraus, was alleine seinen Weg nicht finden kann. In einer zweiten Wendung wird das Mädchen mit anderen Boxern im Ring konfrontiert. Ihre direkte Durchsetzungsfähigkeit mag ein wenig befremden, aber sie nährt auch die Hoffnung, dass sich Maggie aus den Fesseln ihrer Herkunft befreit. Manche Zuschauer mögen es genießen, dass Frankie nicht nur das sportliche Talent seines Schützlings entwickelt, sondern der jungen Frau auch Ratschläge gibt, wie sie ihr Leben auf stabile Beine stellen kann. Maggies Sparsamkeit erlaubt es ihr bald, ein Haus zu kaufen. Sie schenkt es ihrer Mutter, damit die Familie aus dem engen Wohnwagen ausziehen kann. Hier wird deutlich, wie sehr sich Maggie schon von ihrem Umfeld abhebt. Denn anstatt Stolz über diese ungewöhnliche Leistung ihrer Tochter zu empfinden, mäkelt die Mutter an dem Geschenk herum, weil sie befürchtet, als Hausbesitzerin ihr Recht auf Sozialhilfe zu verlieren. In dem zwar freundlichen, aber leer geräumten Haus, durch das Maggie mit ihrer skeptischen Familie zieht, findet der Erlebensprozess eine Spiegelung. Es hat sich etwas herausgebildet, was auf eigenem Grund und Boden steht. Tragisch ist nur, dass es von Maggies Mutter nicht gesehen wird. Das Herausbilden einer entschiedenen Gestalt wird in weiteren Wendungen abgestützt durch die immer größeren Hallen, in denen Maggie ihre schlagkräftigen Auftritte hat, durch den Mantel, den Frankie ihr vor einem entscheidenden Kampf schenkt und durch den gälischen Namen „Mo Cuishle“ („Mein Schatz“), mit dem er seinen Schützling tauft, ohne ihr zunächst zu sagen, was er bedeutet. Mit Maggies Aufstieg werden die Kämpfe schwieriger und belastender. Einmal wird ihr sogar die Nase gebrochen. Aber auch aus dieser Demütigung zieht sie sofort ihre Lehren und macht sich daran, ihre Position zu verstärken. Frankie, Maggie und Scrap verschmelzen zu einem Team, das sich dem Durchkommen der Boxerin widmet. Für sich allein ist jeder ein trostloser Zeitgenosse, aber zusammen gelingt ihnen das Unglaubliche. Sie führen Maggie in einen Kampf um den Weltmeisterschaftstitel im Weltergewicht.
Aus Rücksicht auf die Leser, die den Film noch nicht gesehen haben, möchte ich die Nacherzählung des Plots an dieser Stelle abbrechen. In dem Moment, in dem Maggie ihr Ziel mit Frankies Hilfe erreicht, nimmt der Film eine unerwartete Wendung. Mit ihr kommt ein Thema in den Blick, das nicht nur in diesen Wochen kontrovers diskutiert wird: Sterbehilfe. Da diese Diskussion erst in der zweiten Hälfte aufgeworfen wird, verlässt man den Film unter ihrem schweren Eindruck und verliert auf diese Weise leicht die Wirkungen der ersten Stunde aus dem Auge. Doch der Film ist ein Ganzes. Nur weil er seine Zuschauer an dem mitreissenden Werden einer entschiedenen Gestalt beteiligte, sind sie über diese Wendung so erschüttert. Über den Plot nahmen ihre eigenen Hoffnungen eine Form an und sie müssen sich nun mit der harten Konsequenz des Vergehens anfreunden. In dieser Beziehung sind wir alle „Babys“, die einen Million-Dollar-Auftritt anstreben und damit fertig werden müssen, wenn die Scheinwerfer erlöschen. Es zeichnet das amerikanische Kino und das Talent Clint Eastwoods aus, eine solch komplette Volte des Lebens im Subtext der Geschichte zu entdecken und zu modellieren. Diese kaum zu explizierende Ebene macht die starke Wirkung des Films aus und hat ihm den Respekt eingebracht, den er verdient. Der auch am 28. Februar 2005 in Los Angeles als bester ausländischer Film mit dem Oscar prämierte Das Meer in mir von Alejandro Amenábar erzählt von einem authentischen Fall von Sterbehilfe. Er behandelt das Thema auf anrührende, ja fast Hoffnung spendende Weise, aber daher nicht ähnlich eindringlich und überpersönlich wie Million Dollar Baby.
Man kann Million Dollar Baby eine fast unerträgliche Härte vorwerfen. Trotzdem aber ist er ungemein wirksam. Das Milieu, das Drehbuchautor Paul Haggis für seine Geschichte gewählt hat, eignet sich hervorragend dazu, das Herausschälen und Durchsetzen einer entschiedenen Gestalt zu thematisieren. In der heruntergekommenen Boxhalle irgendwo in Los Angeles kommen junge Menschen zusammen, die allein aufgrund ihrer körperlichen Kraft und Geschicklichkeit die Chance auf ein Leben in Würde haben. Das Durchboxen zum Sieger und damit zu einer Gestalt, die von anderen bemerkt wird, ist das Gleichnis, über das der Film einen überpersönlichen Grundkomplex modelliert. Es ist ein Mythos, der zum Beispiel auch in dem Grimm’schen Märchen „Rotkäppchen“ behandelt wird: Unsere Reisen durch die Wirklichkeit brauchen den Anhalt im Anderen. Aber sie können auch darin stecken bleiben. Es kommt darauf an, Fremdes und Eigenes in einer Art und Weise miteinander auszutauschen, dass eine Gestalt entsteht, die auf eigenen Beinen wandern kann. Wenn uns das gelingt, bedeutet es unser größtes Glück. Und wenn wir wie Maggie, Frankie und Scrap im Film es hinnehmen müssen, von mächtigeren Gestalten „verschlungen“ zu werden, sind wir zutiefst erschüttert und desillusioniert. Clint Eastwoods Film verschont uns nicht mit dieser Wahrheit, aber gerade als ein konsequentes Filmkunstwerk erlaubt er es, eine tiefe und klärende Erfahrung über einen zentralen Aspekt des Lebens zu machen.